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Der Krieg: Was bedeutet er für die deutsch-eurasische Konnektivität?

Russland möcht nicht nur eurasischer Transitstaat sein

Bis zur Invasion Russlands in die Ukraine ging das liberale Deutschland von einem unumkehrbaren Zusammenwachsen des eurasischen Kontinents aus. Die zunehmende wirtschaftliche Interdependenz würde Wohlstandsgefälle und Konflikte einebnen. Das Denken in Einflusszonen und Territorialkonflikte würde sich auflösen, weil die Kosten für kriegerische Auseinandersetzungen höher sind als der Nutzen. Rationalen Akteuren ist dies bewusst, sodass Kriege nicht logisch sind. Der Überfall Russlands auf Georgien in 2008 und die Annektion der Krim 2014 wurden im politischen Berlin noch als kleinere Betriebsunfälle innerhalb dieses historischen Großtrends abgetan. Mit einer Pipeline mehr kommt alles wieder ins Lot. Wirklich?

Russland kommt als eher passiver Akteur in der eurasischen Konnektivität vor: als machtpolitisch eingehegter Energielieferant und Transitstaat für den deutsch-chinesischen Handel. Doch der Angriffskrieg Russlands auf die souveräne Ukraine wirft die Weltordnung über den Haufen. Russland ist mit seinem – selbstverschuldeten – Status nicht zufrieden.

Die künftige Weltordnung wird wieder einmal auf dem eurasischen Kontinent entschieden. In einem zweiteiligen Beitrag untersucht Asienpolitik.de in diesem ersten Teil, was der Krieg Russlands für das deutsche Geschäftsmodell der letzten 20 Jahre bedeutet. Der zweite Teil nimmt die deutsche Taiwan- und Chinapolitik auf den Prüfstein. Denn zweifellos werden der russische Angriffskrieg und die westlichen Reaktionen von China ganz genau beobachtet.

Das deutsche eurasische Erfolgsmodell – am Ende

Energiewende, Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise sind oder wären ohne eurasische Konnektivität nicht zu bewältigen (gewesen). Deutschland ist energetisch von Russland abhängig, 55 Prozent der günstigen Gasimporte kommen von dort, Kohle und Öl ebenfalls in großen Mengen. Deutschland gestaltet fast 40 Prozent des Handels der Europäischen Union mit China, von dem immer mehr über die Schiene auf der neuen Seidenstraße auch durch Transrussland transportiert wird.

Dazu profitieren wir von billigen Produktionsstandorten im stetig osterweiterten Europa für unsere Industrien. Mit Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei hat Deutschland einen größeren Handel als mit China. Unsere Lastwagenfahrer*innen kommen aus Polen und Ukraine. In der Praxis ist das die people-to-people-connectivity, von der die europäischen Strategiepapiere sprechen. Die deutschen Osteuropainvestitionen halten nebenbei deutsche Industrielöhne niedrig und tragen zum überragenden Handel mit China bei.

Für unsere äußere Sicherheit bittet Deutschland die USA und die anderen NATO-Staaten zur Kasse. Die innere Sicherheit wird ebenfalls vernachlässigt – politisch seit Jahren gewollt. Das Zusammenwachsen des Superkontinents nach 2000 brachte Deutschland wirtschaftlich den Platz an der Sonne. Und das ganz ohne Wilhelminismus. Im Gegenteil: Bullerbü konnte im Wahlkampf ernsthaft Subventionen für Lastenräder in progressiven grünen Großstädten diskutieren.

Die 5000 Helme angesichts des russischen Truppenaufmarschs an der ukrainischen Grenze waren der letzte ebenso groteske wie verzweifelte Versuch, das deutsche Erfolgsmodell der Profitmaximierung und des Moralweltmeisters entlang der neuen Seidenstraße zu retten. Was nun?

Erste Anzeichen von „De-connectivitization“ Eurasiens in der Privatwirtschaft gibt es bereits. Die Dresdner VW-Werke mussten ihre Produktion vorübergehend einstellen, weil Teile aus der Ukraine fehlen. Mercedes-Benz hat seine Kooperation mit einem russischen LKW-Hersteller beendet, der Fußballclub Schalke 04 jene mit Gazprom.

Konnektivitätssektoren werden  Sanktionsmechanismen

Zentrale Elemente der eurasischen Konnektivität betreffen die Sektoren Energie und Rohstoffe, Infrastruktur, Finanzen, Handelsregulierungen, und digitale Konnektivität. Der Abbau von Handelsbarrieren, Digitalisierung, eurasische Pipelines, Eisenbahnen und Finanzströme (grenzenlose Investitionen) haben das Zusammenwachsen Eurasiens in den letzten Jahren noch einmal beschleunigt.

Während die chinesische Seidenstraßeninitiative vom Osten her die Hardware liefert und finanziert, möchten Deutschland und die EU mit regulativen Initiativen vom Westen her eine regelbasierte eurasische Konnektivität befördern. Vor allem Deutschland und China als jeweilige Brückenköpfe haben von dem Zusammenwachsen profitiert. Es ist kein Zufall, das Deutschland und China die größten Abnehmer russischer energetischer Rohstoffe sind. Genausowenig wie die chinesische Stadt Chongqing und der Ruhrpotthafen Duisburg die wichtigsten Ziel- und Endbahnhöfe der Seidenstraße auf der Schiene. Aus Russland wurde Transrussia, beschleunigt durch westliche Sanktionen gegen Russland seit dem Krimkrieg.

Genau jene Konnektivitätsektoren sind nun von den beschlossenen Sanktionen am meisten betroffen. Aus Konnektivitätssektoren werden Sanktionssektoren oder -Mechanismen. Auch wenn es „nur“ den Transitstaat Russland betrifft, so wird die geopolitisch veränderte Lage das Konstrukt Eurasien nachhaltig durchschütteln und verändern.

Geopolitische Betrachtung: Rohstoffe und Lieferrouten

Russland und China sind die wichtigsten Rohstofflieferanten für Deutschland. Die deutsche Industrie kämpft seit der Pandemie mit Beschaffungsproblemen. Hat aber in den letzten Jahren jede Anstrengung vermieden, auf dem europäischen Kontinent, vor allem in Skandinavien, Rohstoffvorkommen zu erschließen. Warum auch, man konnte sich ja billig in China und Russland eindecken. Berlin hat sich in den letzten 20 Jahren von russischen Energieimporten abhängig gemacht. Die umstrittene Nordstream 2 Pipeline ist bereits fertiggestellt und harrt der Zertifizierung. Diese hat Bundeskanzler Scholz nun endlich auf Eis gelegt. Während die USA immensen politischen Druck auf Deutschland ausgeübt haben, um die Pipeline zu stoppen, führen die USA selbst zunehmend Öl aus Russland ein.

2020 hat Russland fast 27 Millionen Tonnen Rohöl und -derivate in die USA exportiert. Das sind täglich 538.000 Fass und 63 Prozent mehr als 2014, dem Jahr der russischen Krim-Invasion. Hinter Kanada und Mexiko ist Russland noch vor Saudi-Arabien seit 2020 drittwichtigster Lieferant. Russisches Öl ist venezolanischem in Konsistenz nicht unähnlich, weshalb es dieses ersetzt.

Eurasisch-geopolitisch betrachtet sind die möglichen Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine nicht grundsätzlich gegen US-amerikanische Interessen. Seit langem fordern die USA einen Stopp der Nordstream 2 Pipeline, um amerikanisches Gas, das drei bis zehnmal so teuer ist, an Deutschland zu verkaufen. Dies würde nicht nur dem US-amerikanischen Volkseinkommen zugute kommen, sondern, als positiver Nebeneffekt, auch die deutsche Wettbewerbsfähigkeit in der Autoindustrie und in anderen Branchen schwächen. Zudem könnten die USA viele weitere Rohstoffe zu weit höheren Preisen nach Europa exportieren, allen voran nach Deutschland, einem der weltweit größten Rohstoffimporteure.

Laut US-Außenminister Blinken handelt es sich bei der Nordstream 2 Pipeline um ein „russisches geopolitisches Projekt, das Europa spalten und die europäische Energiesicherheit schwächen soll“. Diese Argumentation ist vorgeschoben und dient in erster Linie amerikanischen Rohstoffinteressen. Denn es sind die USA, die von einer Spaltung Europas geopolitisch und geoökonomisch am meisten profitieren. Wie bereits festgestellt, sind die Pipelines von Russland nach Deutschland und China eine Grundlage eurasischen Zusammenwachsens gewesen. Nun lässt sich allerdings nicht von der Hand weisen, das deutsche Gasimporte Russlands Aufrüstung maßgeblich finanziert haben. Ebenso wie amerikanische Ölimporte.

Die Sanktionen gegen Russland treffen die Pipeline, aber auch allgemein die zukünftige Lieferfähigkeit Russlands, die auf Investitionen angewiesen ist. Einkommensströme fließen von Russland nach den USA.

Wer sind die Verlierer, wer sind die Gewinner?

Deutschand ist ein Hauptgewinner des Zusammenwachsens Eurasiens gewesen. Riesige Länder wie Indien, Iran oder Russland profitieren weniger, da sie entweder mit westlichen Sanktionen belegt sind (Iran, Russland) oder von der chinesischen Seidenstraßeninitiative ausgeschlossen sind (Indien). Deutschland ist im Zentrum Europas und wichtigster Brückenkopf der chinesischen Seidenstraßeninitiative (Duisburg). Gleichzeitig verringert die neue Seidenstraße, die übrigens nur zu einem relativ kleinen Teil durch Russland geht, das amerikanische Erpressungspotential gegenüber China im südchinesischen Meer.

Nicht nur aus strategischen Gründen sollte die rhetorische Waffenbrüderschaft Chinas mit Russland nicht wundern. Russland ist auf China angewiesen. Binnen weniger Jahre soll der Handel beider Länder von 100 Milliarden auf 200 Milliarden US$ wachsen. China profitiert von sehr günstigen Energielieferungen aus Russland. Zudem ist die kontinentale Seidenstraße eine zentrale Ausweichroute für die südchinesische See, die von den USA kontrolliert wird. Würde die kontinentale Seidenstraße geschwächt oder gar geschlossen, profitieren die USA von einer erhöhten Vulnerabilität Chinas. Dies würde gewagte Abenteuer wie die Invasion Taiwans unwahrscheinlicher machen.

Geopolitisch betrachtet ist ein Zusammenwachsen Eurasiens aus US-amerikanischer Sicht problematisch. Die Spaltung Europas und des eurasischen Kontinents hingegen sind nicht prinzipiell gegen amerikanische Interessen. Ein eurasischer Kontinent, der mit sich selbst beschäftigt ist, stellt keine Bedrohung für andere dar. Die von den USA seit Jahren betriebene Osterweiterung der NATO und die Unzufriedenheit Moskau darüber wurde in Kauf genommen.

Deutschland als das Land, das am meisten von eurasischer Konnektivität profitiert hat, wird nun die ökonomisch größten Lasten der Sanktionen tragen müssen – auch selbstverschuldet. China als weiterer bisheriger Hauptgewinner versucht sich, schadlos zu halten oder die Erlöse zu steigern (siehe nächster Abschnitt). Und das könnte auch gelingen. China und die USA könnten also profitieren.

Die USA könnten Hauptgewinner sein:

  • US-amerikanische Getreide-Exporte gehen in die Welt zu teuren Preisen, wenn die Ukraine und Russland ausfallen, beeinträchtigt sind
  • US Fracking-Gas kommt zu wesentlich teureren Preisen nach Deutschland, ebenso wie viele weitere Rohstoffe
  • ganz der hegemonischen Theorie gemäß beziehen die USA weiterhin günstig Öl aus Russland
  • Klassiker: die US-Rüstungsindustrie
  • Geopolitisch sind die USA mit einem gespaltenen Europa stets recht gut gefahren, auch innergesellschaftlich betrachtet

Liberal-Institutionalistische Perspektive auf eurasische Konnektivität

Nach der eher grobschlächtigen geopolitischen Einteilung in Gewinner und Verlierer gehen wir ein bischen mehr ins Detail. Deutschland und die EU haben seit 2018 eine eurasische Konnektivitätsstrategie, die eine Antwort auf die chinesische Seidenstraßeninitiative ist. Diese basiert auf liberal-institutionalistischen Annahmen. Für die Konnektivitätssektoren (jetzt Sanktionssektoren) Finanzen, Infrastruktur, Resourcen, Investitionen strebt die EU konkret umfassende (comprehensive), nachhaltige und regelbasierte Konnektivität an. Aus Sicht der EU trifft dies alles auf die chinesische Seidenstraßeninitiative eben nicht zu. Kent E. Calder hat in seinem Buch Supercontinent (hier geht es zur Buchbesprechung) zwischen regelbasierter Globalisierung (EU; USA) und distributiver Globalisierung (China) unterschieden. Es dürfte für die EU schwerer werden, ihre Regeln in fernen asiatischen Regionen durchzusetzen, die handelspolitisch immer stärker von China dominiert werden.

Der Einfluss der EU auf die eurasische Konnektivität dürfte durch den russischen Angriffskrieg aus verschiedenen Gründen rückläufig sein. Die EU:

  • belegt eurasische Konnektivitätsprojekte mit Sanktionen
  • zieht sich aus deren Finanzierung zurück
  • hat selbst weniger Mittel zur Verfügung aufgrund Umschichtungen ins Militärische sowie wirtschaftliche Einbußen durch die Sanktionen
  • während China opportunisitsch und pragamtisch in die neuen Freiräume stoßen kann

Der Finanzbedarf für den Aufbau von eurasischer Infrastruktur bleibt gigantisch hoch, während Europa weniger Mittel dazu beisteuern kann. Dies erhöht weiter den Einfluss Chinas auf eurasische Projekte. Die EU wird deshalb weniger in der Lage sein, Umweltschutzstandards, nachhaltige Schulden (Russland könnte das erste chinesische Opfer werden), höhere Arbeitsschutzstandards durchzusetzen.

Während die EU unter umfassend bezüglich asiatischer Konnektivität maßgeblich ASEAN centrality versteht, hat China auch machtpolitische Prioritäten. Eine Spaltung von ASEAN kommt China gelegen. Die EU würde gerne jene Konnektivitätsprojekte fördern, die ASEAN stärken.

Handlungsoptionen

Deutschland muss nach Synergien in Europa und Ostasien Ausschau halten. Bundeskanzler Scholz hat in seiner Regierungserklärung am Sonntag den 27. Februar angekündigt, „gleichgesinnte Partner“ weltweit zu unterstützen. Deutschland sollte seine Fühler viel stärker nach Japan, Südkorea und Taiwan ausstrecken.  Das sind Länder mit komparativen Vorteilen in südoastasiatischen Raum, die ebenfalls die Werte Deutschlands und der EU teilen. Deutschland muss mehr in strategische Allianzen investieren, auch in Rüstungsallianzen, und Bündnisse mit gleichgesinnten Ländern schmieden. Japan ist ebenso wie Deutschland eine Wirtschaftsweltmacht, die sowohl mit Russland als auch mit China im Clinch liegt, aber dennoch die Beziehungen einigermaßen positiv gestalten kann. Auch und gerade, weil Japan in seiner Militärpolitik längst den Schritt gegangen ist, den nun Deutschland machen muss.

Ähnlich wie bei der Corona-Pandemie könnten die Vereinigten Staaten und China die Gewinner des Putin-Kriegs gegen die Ukraine werden. Deutschland und die EU müssen sich jetzt behaupten.

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