Super Continent: Die Logik der Integration Eurasiens
In Kent E. Calders Buch Super Continent. The Logic of Eurasian Integration geht es einmal nicht um Frage der Vorherrschaft im 21. Jahrhundert zwischen den USA und China, zumindest nicht direkt. Stattdessen hat das Buch das rasante Zusammenwachsen (die „Konnektivität“) des eurasischen Kontinents zum Thema, maßgeblich ausgelöst durch den politik-ökonomisch ausgerichteten „Kontinentalismus“ Chinas. Kent E. Calder ist Vizedekan und Direktor des renommerten Reischauer Zentrums für Ostasienstudien an der John Hopkins Universität. Er war 20 Jahre Professor in Princeton, und vier Jahre in Harvard, wo er auch promovierte. Er hat viele Jahre in Ostasien verbracht und viel beachtete Artikel und Bücher über Energiepolitiken Eurasiens und internationale politische Ökonomie publiziert. Unter anderem war er auch jahrelang Berater für den US-Botschafter in Japan, sowie Mitarbeiter im US Kongress und der US-Handelskommission.
Calder untersucht die eurasische Kontinentaldrift, die durch verschiedene, sich wechselseitig beeinflussende Umstände in und außerhalb Chinas hervorgerufen wurde und die „Tyrannei der Entfernung“ auf der eurasischen Landmasse überwindet. Dieser Kontinentalismus findet seinen Ausdruck und Anschub in der Seidenstraßeninitiative (Belt and Road Initiative), die Chinas Präsident Xi Jinping 2013 in Almaty in Kasachstan ausgerufen hat. Im Ergebnis bildet sich ein Superkontinent heraus, vergleichbar dem Amerikas nach Erschließung mit Eisenbahn und Bau des Panama-Kanals, nur eben viel größer.
Die wesentlichen Katalysatoren für eurasische Konnektivität sind die drei Sektoren Energie, physische und digitale Infrastruktur, und Finanzierungsinstrumente. Allerdings führt dabei stets Chinas Verteilungsglobalismus („distributive globalism“) Regie, der das westliche liberale, regelgebundene und transparentere Wirtschaftssystem herausfordert. Dies, so Calder, hat dramatische Auswirkungen auf die Zukunft der Weltordnung und überhaupt aufs Globale Regieren (Global Governance).
Die Rolle der (politischen) Geografie Eurasiens
Der Superkontinent Eurasien entsteht, wenn geografische und politische Hindernisse überwunden werden. Die alte Seidenstraße hatte ihre letzte Blütezeit unter der fast kontinentalen Herrschaft der Mongolen, die Marco Polo seinen Weg nach China ermöglichten und die ja auch China von 1279 bis 1368 beherrschten. Die Mongolen erfanden auch den „Reisepass“, dessen Besitz Händlern entlang der Seidenstraße Schutz versprach. Nicht zuletzt fallen in diese Epoche auch die berühmten Seereisen Zheng He’s auf beeindruckenden Schiffen bis nach Afrika.
Mit der Überwindung der mongolischen Herrschaft und dem folgenden Aufstieg Russlands und später der Sowjetunion sowie der jahrhundertelangen Insichgekehrtheit Chinas waren Europa und China wieder getrennt und nur über die beschwerliche Fahrt über die See zu erreichen. Erst mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn, noch im Zarenreich Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, rückte die Erschließung einer eurasischen Landverbindung wieder in den Vordergrund. Doch die Russische Revolution und die Gründung der Sowjetunion machten die Herausbildung eines eurasischen Superkontinents, vergleichbar dem Amerikas, unmöglich.
Jahrhundertelange Dominanz politischer Hindernisse
Politische Hindernisse waren für eurasische Konnektivität stets wichtiger als geografische. China ist heute auch deshalb der dynamische Zentralstaat des eurasischen Kontinents geworden, weil sich, neben vorteilhafter Geografie, innen- und außenpolitische Brüche wechselseitig ergänzen. Indien hingegen ist sowohl geografisch (Himalaya) als auch politisch (Konflikte mit Pakistan, westliche Sanktionen gegen Iran, Gegnerschaft mit China) von den vorteilhaften politischen Entwicklungen vom Kontinent getrennt, und kann daher sein Potential nicht voll entfalten. Dies sollte auch den Europäern strategisch zu denken geben.
Brüche und Weichenstellungen
Neben geografscher Lage sind Brüche (critical junctures), politische Weichenstellungen (crossover points) und distributiver Globalismus (distributive globalism) die zentralen Konzepte in der Analyse zum Entstehen des Superkontinents.
Entscheidende Brüche waren
- 1976 Das Ende der Kulturrevolution in China
- 1991 Der Kollaps der Sowjetunion
- 2008 Die von der Wall Street ausgelöse Weltfinanzkrise
- 2014 Der Ukraine-Konflikt
Politische Weichenstellungen in diesen Bruchphasen waren
- Die „vier Modernisierungen“ (四个现代化, sìge xiàndàihuà) unter Deng Xiaoping seit 1978. Zwar hatte der chinesische Premier Zhou Enlai schon 1963 dieses Reformprogramm vorgeschlagen, doch wurde es erst nach der Ära Mao Zedong angegangen.
- Der Kollaps der Sowjetunion ließ das kommunistische Riesenreich zerbröseln. Seitdem werden die energiereichen, zentalasiatischen Staaten, ebenso wie Russland und China, von „soft-autoritären“ (soft authoritarian) Regimen regiert, die für große Rohstoff- und Infrastrukturprojekte Chinas in jeder Hinsicht empfänglich sind.
- Die Weltfinanzkrise hat China dazu genutzt, mit einem großen Finanzprogramm die innerchinesischen Provinzen zu erschließen und mit den Küstenregionen zu verbinden. Wieder stehen Infrastrukturprogramme im Zentrum. Die großen, sich in Staatsbesitz befindlichen Stahl-, Eisenbahn-, Konstruktions- und Schifffahrtsunternehmen konsolidieren sich weiter und werden die weltweit größen Unternehmen ihrer Branche.
- Der Ukraine-Konflikt trennt Putin-Russland von westlichen Investoren und Märkten ab. Russlands Wirtschaft schrumpft erheblich und Putin bleibt nur, Russland als Energieexporteur auf China auszurichten. Deshalb ist Russland zum Transitstaat für die neue Seidenstraße degradiert und verliert gegenüber China erheblich an Einfluss. Gleichzeitig beschleunigt dies die wirtschaftliche Annäherung Chinas an Europa.
Mit Kirchturmpolitik zum Super Continent?
Calder beobachtet, dass China die Seidenstraßenprojekte ad hoc verhandelt, ohne Regeln oder Prinzipien. Im Buch wird dieser „distributive Globalismus“ (distributive globalism) dem westlichen regulativen Wettbewerb gegenüber gestellt. Das heißt, distributive Allokation ist der Gegensatz zu regulatorischer Verteilung, die auf Transparenz und Regeln beruht. Dieser distributive Globalismus generiere „win-win“ Arrangements zwischen „Wohltäter“ und „Empfänger“. Denn als Folge der Auszahlungsstrukturen werden Gewinne nur für Wenige generiert (etwa für die Führungsriege anderer Staaten oder Chinas staatseigene Konzerne), während die Kosten diffus und großräumig verteilt werden. In der angelsächsischen Politikwissenschaft wird dies als Pork-Barrel-Politics bezeichnet, im deutschen Sprachraum gibt es dafür den Begriff Kirchturmpolitik.
Die eurasische Kontinentaldrift
Die Eurasische Kontinentaldrift in Richtung Super Continent ist ein Ergebnis dieser oben beschriebenen Brüche. Die Weltfinanzkrise 2007/8 nahm China zum Anlass, die westlichen chinesischen Provinzen wirschaftlich zu entwickeln, im Wesentlichen mit Bau- und Infrastrutkturprojekten. In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts hat dieses Konjunkturprogramm chinesische Staatsfirmen zu den größten ihrer Branche weltweit werden lassen (Stahl, Straßen, Eisenbahnen, Telekommunikation, etc.) Calder betont, dass diese Westwärtsbewegung innerhalb Chinas bereits fast die Hälfte der Distanz zu den östlichen EU Ländern ausmacht (siehe Karte oben).
In Europa hat die Finanzkrise dazu geführt, dass insbesondere die zentraleuropäischen EU Mitgiedsländer Polen, Tschechien, Slowakei, und Ungarn sowie Griechenland und Italien große Hoffnungen in chinesische Investitionen setzten. Dies habe 2012 in Budapest zu dem in der westlichen EU umstrittenen und von China initiierten Forum China+17 (auch China-Mittel-Ost-Europa-Gipfel) geführt. Zahlreiche Investitionen (etwa die Donaubrücke in Serbien) sowie Zugverbindungen sind in Planung oder wurden bereits ausgeführt.
Begünstigt wurde die Wirtschaftsentwicklungen insbesondere in den Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei. Diese profitieren von den riesigen Investitionen deutscher Unternehmen in die dortige Industrielandschaft. Während Frankreich und Italien schwächeln, das Vereinigte Königreich aus der EU austritt, driftet also das industrielle Zentrum der EU stärker nach Osten, mit Deutschland im Kern. Zum Teil wird ausgeführt, diese Annäherung beruhe auf der kommunistischen Vergangenheit der Länder. Allerdings betont Calder, dass die zentraleuropäischen Länder für Chinas distributiven Globalismus auch empfänglich seien. Dadurch wird auch der europäische regulative Kapitalismus herausgefordert, wenn nicht von innen ausgehöhlt, der sich wirtschaftspolitisch in einen von China angeführten Super Continent integriert.
Der Ukraine-Konflikt machte Russland zum willfährigen Transitstaat des Super Continent
Der Ukraine-Konflikt und die Gründung der Eurasischen Union hat die Distanzen auf dem eurasischen Kontinent ebenfalls, contra-intuitiv, schrumpfen lassen. Denn Russland setzt seine Hoffnungen in eine Wirtschaftsunion im post-sowjetischen Raum sowie China. Die Eurasische Union ist wirtschaftlich zwar von marginaler Bedeutung. Jedoch ermöglicht diese durch den einheitlichen Zollraum eine schnelle Verzollung der Handelsware zwischen China und der EU, weil nur noch zwei Grenzübergänge zu überqueren sind (China – Kasachstan und Belarus-Polen). Die Ukraine-Krise hat also die Herausbildung des Super Continent erheblich begünstigt. Dank der westlichen Sanktionen gegen Russland hat Moskau auch keinen Hebel, China Energiepreise zu diktieren. Da Peking über die weltweit größten Kohlereserven verfügt, kann es diese in Preisverhandlungen gegen Moskau einsetzen.
Super Continent: Die Chongching-Duisburg Eisenbahnverbindung
Die Yu’Xin’Ou Railway (渝新欧铁路) ist seit August 2012 in Betrieb und wird offiziell als „die neue Seidentstraße“ bezeichnet. Yu steht für Chongching, Xin heißt neu, und Ou ist die Kurzform für Europa.
Die 11,179 km Strecke benötigt ungefähr zwei Wochen von Chingqing nach Duisburg. Mit dem Containerschiff würde es 36 Tage dauern, Waren von China nach Europa zu verschiffen. Die Strecke führt durch Russland, Belarus, Polen und Deutschland. Damit verbindet der Yu-Xin-Ou-Express den gesamt Super Continent von China mit dem traditonellen, industriellen Zentrum Europas, das manchmal als „blaue Banane“ bezeichnet wird (Von London west-südlich gebeugt über Mitteleuropa nach Norditalien). Tranportiert werden auf den teils über sechs Fußballfelder langen Zügen IT-Produkte, angeführt von Foxconn. Digitale, Peking-dominierte 5G-Konnektivität ist ein zentrales Ziel von Huawei und China, dass dieser Zugverbindung noch folgen soll.
Dieses Projekt ist nur eines von vielen. Calder geht auch intensiv auf Südostasien ein, und beschreibt wie insbesondere infrastrukturelle und intermodale (Schiff und Bahn) Konnektivität zwischen China und Südostasien hergestellt wird. Dadurch zieht China seine südliche Peripherie noch näher in den chinesischen Machtbereich.
Wie soll der Westen reagieren?
Welche Rolle spielen auf dem sich entwickelnden Super Continent eigentlich noch die EUropäer? Mit der Seidenstraßeninitiative setzt sich China ins Zentrum der eurasischen Wirtschaftsentwicklung, bei der die meisten anderen Akteure bisher mehr oder weniger zu Statisten degradiert wurden. Bedauerlicherweise kommt bei Calder die EU-Perspektive überhaupt nicht vor, sondern er bespricht lediglich den von Deutschland angeführten zentraleuropäischen Wirtschaftsraum. Da er ja zu Beginn seines Buches vom herausgeforderten regelbasierten Kapitalismus spricht, hätte man, zumindest aus europäischer Sichtweise, mehr erwartet. Auch das Calder fast sympathisierend von „soft-autoritäten“ Staaten von China bis an die EU-Ostgrenzen spricht, irritiert. Denn schließlich handelt es sich hier um Regierungen, die auch vor Auftragsmorden in der EU nicht zurückschrecken oder Hundertausende von Menschen aufgrund ihres Glaubens einsperren. Das seit Frühjahr 2019 endlich auch die EU vom „Systemwettbewerb“ mit China spricht, sei hier einmal dahingestellt, denn da war Calders Buch wohl schon fast fertig.
Nein, Calder sieht vor allem die USA in der Verantwortung, dem distribitiven Globalismus etwas entgegen zu setzen. Das kann allerdings schwerlich überzeugen, da es ja gerade die USA sind, die sich weltweit aus Handelsabkommen zurückziehen, was von Calder auch kritisiert wird. Darüberhinaus kommen die USA auf dem eurasischen Super Continent und den wirtschaftlichen Dynamiken, die Calder so gekonnt besprochen hat, ja kaum vor. Das zumal führende US-Unternehmen, insbesondere aus dem Digitalbereich, der für die neue Seidenstraße so wichtig ist (siehe Huawei), sich ebenfalls gerne internationalen Regeln entziehen, und sich gleichzeitig politische Schützenhilfe aus dem Weißen Haus gegenüber der EU erhoffen, macht eine gemeinsame westliche Option nicht glaubwürdiger. Die EU dürfte auf sich alleine gestellt sein, und im Gegenteil, sogar eher an zwei Fronten zu kämpfen haben.
Hoffnungsschimmer Skandinavien?
Allenfalls Hoffnung machen bei Calder da die Skandinavier, die ihre „Soft Power“ nützen könnten, um dem regelbasierten, transparenten und marktbasierten Globalismus wieder auf die Sprünge zu helfen. Denn auch die Arktis und die Polare Seidenstraße sind ins Zentrum der chinesischen Kirchturmpolitik gerückt. Für die digitale Seidenstraße denken Strategen in China an ein Unterseekabel durch den arktischen Ozean. Zumindest hier kommt bei Calder eine europäische Perspektive ins Spiel, die auch in diesem Blog noch des Öfteren besprochen werden wird.
Nächste Buchbesprechung
Als nächstes wird in dieser Reihe das Buch „The European Union and the Asia-Pacific“ besprochen, das 2019 von Weiqing SONG und Jianwei WANG herausgegeben wurde. Vielleicht lässt sich in diesem Buch etwas darüber erfahren, wie sich die EU in dieser Großregion strategisch aufstellen sollte, um sich auf dem eurasischen Kontinent zu behaupten.