Die 36 Strategeme (san shi liu Ji, 三十六計) zum Entschlüsseln des Taiwankonflikts
25 Militärflugzeuge der chinesischen Volksbefreiungsluftwaffe sind am 12. April 2021 in die taiwanische Luftraumüberwachungszone (Air Defense Identification Zone, ADIZ) eingedrungen, soviele wie noch nie an einem Tag (Focus Taiwan, 12. April 2021).
Routiniert fliegen seit September 2020 bis Ende des Jahres an 91 Tagen chinesische Flieger in den taiwanischen Luftraum (Taiwannews, 3. Januar 2020). Nur 1996, während der Taiwan Missile Crisis, war mehr Flugbetrieb. Das taiwanische Militär startete seinerseits Militärflugzeuge, brachte wie üblich Radiowarnungen heraus, und die Verteidigungssysteme in Stellung.
Chinas Präsident und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Xi Jinping (习近平), betonte am 1. Januar 2019 in einer wichtigen Rede eine militärische Option zur Wiedervereinigung (New York Times, 1. Januar 2019), und schloss ein selbständiges Taiwan aus.
“The country is growing strong, the nation is rejuvenating and unification between the two sides of the strait is the great trend of history.”
Kommt es zur Invasion Taiwans?
Steht eine Invasion Taiwans durch die Volksbefreiungsarmee unmittelbar bevor? Und wie kann sich Taiwan gegenüber dem übermächtigen Gegner behaupten? Wie positionieren sich die westlichen Staaten, allen voran die USA? Was kann die Europäische Union und Deutschland tun, um Frieden in der Taiwanstraße zu unterstützen? Wer auf diese Fragen antworten sucht, muss sich mit den u.a. von Sunzi verfassten klassischen 36 Strategemen der chinesischen Kriegs- und Listenkunde befassen, von denen sich die chinesische Führungselite in der praktischen Diplomatie seit Jahrzehnten inspirieren lässt (Harro von Senger, 2016). Deshalb sollten wir „listenblinde Europäer“ (von Senger) uns mit den Strategemen befassen und die einzigartige Artikelserie auf Asienpolitik.de folgen.
Was sind Strategeme?
Strategemata oder Strategeme sind Listen aus dem alten China. Das Wort „Strategeme“ ist im Deutschen kein gängiger Begriff. Er ist nicht gleichbedeutend mit Strategie. Letztere ist ein vollständiger Verhaltensplan, während Strategeme listiges Verhalten erkennen sollen. Im Deutschen ist das Wort „Strategeme“ vom 16. bis Ende des 18. Jahrhundert reich bezeugt und bezeichnete die „Kriegslist“, aber auch die „List im täglichen Kleinkrieg“ (Harro von Senger, Die Kunst der List, 2016). Allerdings wurde der Ausdruck „Strategem“ im Deutschen aufgegeben, im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern, und durch den negativ besetzten Ausdruck „List“ ersetzt. Der Begriff Strategem hingegen ist wertneutral.
Auch Taiwan ist natürlich bestens mit den Kriegstrategemen vertraut – so einfach lässt man sich also sicher nicht ins Bockshorn jagen. Die Hauptannahmen der „Taiwanstraßen-Strategeme“ ist, das China und Taiwan Entscheidungen basierend auf Strategemen anwenden, um Fehler auf der jeweils anderen Seite der Taiwanstraße zu provozieren und auszunutzen. Ziel der Strategeme ist es, Strukturen und Abläufe zu erkennen, die die andere Seite in die Irre leiten sollen. Dank wiederkehrender Muster lassen sich Krisen und Optionen frühzeitig erkennen. Chinas Präsident Xi gilt als großer Anhänger der Strategeme und besitzt eine Luxusausführung der Strategeme, die in seinem Bücherregal neben Clausewitz‘ „Vom Kriege“ ihren Platz haben soll (von Senger, 2018, Moulüe, Suprapanung).
Was lehren uns die Strategeme im Taiwanstraßen-Konflikt?
Die Serie „Taiwanstraßen-Strategeme“ wird anhand von (geplant) 36 Fällen eine interdisziplinäre politikwissenschaftlich-sinologische Einführung in zeitgeschichtliche und aktuelle Entwicklungen in der Taiwanstraße liefern, und zwar aus Sicht der uralten Schule der chinesischen Strategeme.
Denn: Mit unseren zu kurz greifenden, rein westlichen Ansätzen aus der Politikwissenschaft und der Spieltheorie können wir verschiedene Entwicklungen in der Taiwanstraße nicht rational erklären, wie zum Beispiel:
- Missachtung des Kosten-Nutzen Kalküls: warum bombadierte die Volksbefreiungsarmee jahrzehntelang die dicht vor China liegende zu Taiwan gehörende Insel Kinmen (Quemoy)?
- Vermeintlicher strategischer Widerspruch: Warum behandelt China Taiwan nicht so, wie die USA Kuba behandeln?
- Ökonomisch abhängig: Warum vergößert Taiwan seine ökonomische Abhängigkeit von China, obwohl China Taiwan einverleiben möchte?
- Bedingt abwehrbereit: Warum gibt Taiwan so wenig für das Militär aus und hat die Wehrpflicht praktisch abgeschafft (Hinweis: gemessen am Staatsbudget gibt Taiwan deutlich mehr aus als Deutschland, allerdings ist Taiwan ein extremes Niedrigsteuerland)?
Taiwanstraßen-Strategeme sind nicht nur im militärischen Bereich von Bedeutung, sondern auch im zivil-gesellschaftlichen, allgemein-politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich. Deshalb befassen sich die Taiwanstraßen-Strategeme auch noch mit anderen als rein sicherheitspolitischen und strategischen Konstellationen.
Taiwanstraßen-Strategeme: Inhalte
Sicherheitspolitik
- „Kinmen-Bombings 2.0“: Welchen strategischen Nutzen verspricht sich die chinesische Führung von den Militärflügen in den taiwanischen Luftraum?
- Taiwans stragegische Antwort auf die Luftraumübertritte
- Welche Rolle spielen die chinesischen Militärbasen im südchinesischen Meer und die erweiterten, teils neuen Militärbasen auf dem chinesischen Festland gegenüber Taiwan?
- Welche Rolle spielen die Konflikte Chinas mit Indien, Japan und Australien im Taiwanstraßen-Konflikt?
- (Wann) greift China an?
- Zur Wehrbereitschaft Taiwans
- David gegen Goliath: was raten die Strategeme?
- Die (un)heilvolle Rolle amerikanischer Think Tanks und Taiwanstraßenexperten
- Von Strategic Ambiguity zu Strategic Clarity der USA
Wirtschaft
- Taiwanische Investments und Geschäftsleute in China
- Kauft China Taiwan? Die Demographie spricht für China
- Warum führt China keinen Wirtschaftskrieg gegen Taiwan?
- TSMC, China, Taiwan und die USA: Kampf um Halbleiter
- Das unterschätzte Risiko: Windenergie in der Taiwanstraße
- Chinesische Investments in Taiwan, allen voran Medien
Taiwanstraßen-Politik
- Tsai Yingwens Vorgänger Ma Ying-jeou (馬英九): ein Doppelagent?
- Xi Jinpings (习近平) Reden zur Vereinigung seit 2013 und Xi’s Strategeme
- Tsais größter Fehler: Was war der 92er Konsensus, und welchen Nutzen hatten beide Seiten davon?
- „Ein Land, zwei Systeme“? Was bedeuten die Geschehnisse in Hong Kong 2020 aus strategischer Sicht für Taiwan
- Wie könnte ein neuer Konsensus aussehen?
- Tsai Yingwens (蔡英文) Angebote an China aus strategischer Sicht
Taiwan und China international
- Taiwans „soft power regime“: LGBT-Rechte aus strategischer Sicht
- Nichtanerkennung hat auch Vorteile: Die Taiwan AG
- Chinas „Ein-China-Politik“ im internationalen Umfeld
- Taiwans „Ein-China-Politik“ im internationalen Umfeld
- Neue Ansätze: Taiwans para diplomacy, city diplomacy, NGO und private diplomacy
- Taipeis Bürgermeister Ke Wenzhe (柯文哲) als neuer Politikertypus
- Der Fall Lufthansa & Co: „Taiwan, China“ und was die deutsche Politik machen sollte
- Chinas größter Fehler
- Deutschland: Kipppunkt voraus? Ab wann sich Farbe bekennen lohnt
Individuelle Rationalität von Taiwanern
- Die Status-Quo-Taiwaner: pragmatisch, naiv, oder einfach strategembegabt?
- Taiwanische Stars in China
- Soziale- und Protestbewegungen junger Menschen in Taiwan und die politische Führung
- Strategem 36: Doppelte Staatsbürgerschaften (wenn gar nichts mehr hilft, wegrennen)
Taiwanstraßen-Strategeme: Mit 36 Schlüsseln den Konflikt besser verstehen
Im Schnitt alle zwei bis drei Wochen soll ein neuer Artikel erscheinen. Wir folgen nicht der obigen Abfolge, sondern greifen immer aktuelle Beispiele heraus und setzen sie in einen allgemeinen und strategemischen Kontext. Wer keinen Artikel verpassen möchte, folgt am besten auf dem Asienpolitik-Twitter-Account Asienpolitik. Ausdrücklich ist auch das Kommentieren erwünscht.
2 Antworten auf „Taiwanstraßen-Strategeme zwischen China und Taiwan“
Hallo,
ich beschäftige mich berufsbedingt mit dem Taiwan-China Konflikt und finde die Darstellungen auf der Website sehr interessant. Leider sind zu den genannten Punkten keine weiteren Artikel / Beiträge erschienen, oder? Mich würde vorallem der Absatz über die wirtschaftlichen Verknüpfungen interessieren.
Herzliche Grüße
Irmi Eckart
Sehr geehrte Frau Eckart
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Sie haben recht – da ist einiges an Rückstand aufzuholen. In den nächsten Wochen erscheinen hoffentlich der eine oder andere Artikel zum Konflikt. Viele Grüße