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Leben in Taiwan

Taiwans Universitäten im demographischen Wandel

Demographische Trends: Ein massiver Rückgang auf allen Ebenen

Taiwans demographischer Wandel hat drastische Auswirkungen auf des gesamte Bildungssystem des Landes. Die neuesten Prognosen des taiwanischen Bildungsministeriums (教育部, Jiàoyùbù), veröffentlicht im „2024–2039 Student Number Estimation Report“, zeichnen ein dramatisches Bild: Taiwan wird innerhalb der nächsten 15 Jahre massive Rückgänge auf allen Bildungsstufen verzeichnen.

Die Zahl der Grundschüler soll von etwa 1,235 Millionen im Jahr 2024 auf nur noch 779.000 im Jahr 2039 sinken – ein Rückgang von 456.000 Schülern.

Die Zahl der Junior-High-Schüler wird nach einem kurzfristigen Anstieg aufgrund der „Year of the Dragon“-Geburten bis 2029 auf 404.000 fallen.

Besonders drastisch ist der Rückgang bei den Senior-High-Schülern: von derzeit etwa 600.000 auf nur noch 421.000 im Jahr 2039.

Auch die Zahl der Universitätsabsolventen wird jedes Jahr um etwa 2.600 Personen sinken und voraussichtlich von knapp 190.000 auf etwa 161.000 im Jahr 2039 abnehmen.

Im Jahr 2023 lag die Geburtenrate Taiwans bei nur noch 0,865 Kindern pro Frau – ein historischer Tiefststand, der weit unter der für stabile Bevölkerungsentwicklung benötigten Rate von 2,1 liegt.

Angesichts dieses rapiden Schrumpfens setzen einige Universitäten verstärkt auf die Rekrutierung internationaler Studierender als Gegenmaßnahme. So verzeichnete die National Taiwan Normal University (NTNU, 國立臺灣師範大學) im Jahr 2024 einen Rekordwert von 7.648 internationalen Studierenden – den höchsten Anteil in Taiwan – und baute ihre englischsprachigen Studienangebote (EMI-Programme) massiv aus. Trotz solcher Initiativen bleiben die strukturellen Herausforderungen für das taiwanische Hochschulsystem bestehen, insbesondere für kleinere private Universitäten ohne internationale Anziehungskraft.


Wandel der Steuerungsmechanismen: Von der Watchlist zur Eigenregulierung

Die Ära der formellen Watchlist (2017–2023)

Um den demographischen Herausforderungen zu begegnen, führte das taiwanische Bildungsministerium ab 2017 eine formelle Watchlist (列管名單, lièguǎn míngdān) ein. Private Hochschulen mit extrem niedrigen Einschreibungsquoten (unter 60 %) oder finanziellen Problemen wurden unter spezielle Aufsicht (專案輔導, zhuān’àn fǔdǎo) gestellt. Sie mussten innerhalb bestimmter Fristen Reformen nachweisen oder sich auf geordnete Schließung vorbereiten.

Diese Liste wurde regelmäßig auf der Plattform 大專校院校務資訊公開平台 veröffentlicht.


Abschaffung der Watchlist (seit 2024)

Mit dem Schuljahr 113 (August 2024) änderte die Regierung ihre Strategie grundlegend:

► Keine öffentliche Watchlist mehr.

Das Bildungsministerium verkündete offiziell:

113學年度起,私立大專校院已無專案輔導學校。」

Statt öffentlicher Kontrolle setzt Taiwan nun auf ein System aus Eigenregulierung, flexiblen Anreizen und gezielter staatlicher Unterstützung für freiwillige Fusionen und Transformationen. Mit dem Entwurf des Gesetzes über Transformation und Rückzug privater Hochschulen (私立大專校院轉型及退場條例) hat Taiwan seit 2024 begonnen, die bisherigen Mechanismen wie die Watchlist abzuschaffen und neue Anreizstrukturen für Hochschultransformationen zu etablieren. Obwohl sich das Gesetz noch im Entwurfsstadium befindet, dient es seit 2024 de facto als Grundlage für die neue Steuerungspolitik.

Universitäre Schließungen der letzten zehn Jahre

Die neue Strategie führte nicht zu einer Entschärfung der Lage – im Gegenteil: Taiwan erlebt derzeit die größte Schließungswelle im Hochschulbereich seit Jahrzehnten.

Zwischen 2014 und 2024 mussten bereits 15 Colleges und Universitäten ihren Betrieb einstellen.
Aktuelle Schätzungen des Verbandes der privaten Bildungseinrichtungen gehen davon aus, dass bis 2028 weitere 40 bis 50 private Hochschulen schließen könnten, wenn sich die demographische Entwicklung unverändert fortsetzt.


Bereits erfolgte Schließungen (Stand 2025)

 

Universität Chinesischer Name Schließungsdatum
Taiwan Shoufu University 台灣首府大學 (Táiwān Shǒufǔ Dàxué) 2024-07-31
Chung Chou University of Science and Technology 中州科技大學 (Zhōngzhōu Kējì Dàxué) 2024-07-31
MingDao University 明道大學 (Míngdào Dàxué) 2024-05-31
Toko University 稻江科技暨管理學院 (Dàojiāng Kējì Jì Guǎnlǐ Xuéyuàn) 2024-05-31
Huanqiu University of Science and Technology 環球科技大學 (Huánqiú Kējì Dàxué) 2024-05-31
Dahan Institute of Technology 大漢技術學院 (Dàhàn Jìshù Xuéyuàn) 2024-05-31
Tatung Institute of Technology 大同技術學院 (Dàtóng Jìshù Xuéyuàn) 2024-05-31

Hochschulen unter akuter Bedrohung

 

Universität Chinesischer Name Status
Hechun Institute of Technology 和春技術學院 (Héchūn Jìshù Xuéyuàn) Schließung innerhalb eines Jahres
Kao Yuan University 高苑科技大學 (Gāoyuàn Kējì Dàxué) Schließung angekündigt 2024
Tatung College 大同學院 (Dàtóng Xuéyuàn) Hochgradig gefährdet 2024/25

Weitere etwa 20 private Hochschulen gelten als strukturell gefährdet, stehen aber noch nicht unmittelbar vor der Schließung.


Regionale Konzentration der Schließungen

Besonders betroffen sind Regionen außerhalb des Großraums Taipei:

  • Zentral-Taiwan (Changhua, Taichung)

  • Süd-Taiwan (Tainan, Chiayi, Pingtung)

Dort verschärfen niedrige Einschreibungszahlen, schwache Wirtschaftsstrukturen und fehlende internationale Anziehungskraft die Problemlage.

Gleichzeitig zeigen einzelne Regionen wie Hsinchu, das durch seine florierenden Wissenschaftsparks eine starke Anziehungskraft auf junge Familien entwickelt hat, dass lokale Ausnahmen möglich sind – auch wenn dort das Wachstum zuletzt wieder abnimmt.


Staatliche Steuerungsmaßnahmen

Die Regierung Taiwans verfolgt eine aktive Strategie, um die notwendigen Anpassungen im Hochschulsystem möglichst geordnet zu gestalten. Dabei kommen verschiedene Instrumente zum Einsatz:

1. Förderung freiwilliger Fusionen (合併獎勵 hébìng jiǎnglì)

Um den Hochschulsektor effizienter zu gestalten, werden Universitäten, die sich freiwillig zusammenschließen, finanziell unterstützt. Die Höhe der Zuschüsse richtet sich nach der Größe und Komplexität der Fusion. Besonders bevorzugt werden Fusionen innerhalb derselben Region, um lokale Bildungscluster zu stärken.

2. Umwandlungsförderung (轉型補助 zhuǎnxíng bǔzhù)

Hochschulen, die nicht mehr als klassische Universitäten weiterbestehen können, erhalten Anreize, sich in andere Bildungsformen zu transformieren, zum Beispiel:

  • Berufsbildungszentren (職業培訓中心 zhíyè péixùn zhōngxīn)

  • Einrichtungen für lebenslanges Lernen (終身學習機構 zhōngshēn xuéxí jīgòu)

  • Innovations- und Gründerzentren (創新育成中心 chuàngxīn yùchéng zhōngxīn)

Für erfolgreiche Transformationen können bis zu 100 Millionen NT$ an Fördermitteln beantragt werden.

3. Schutz der Studierenden (學生安置方案 xuéshēng ānzhì fāng’àn)

Im Falle einer Schließung garantiert das Bildungsministerium, dass:

  • Studienleistungen anerkannt werden.

  • Studierende bevorzugt an andere Hochschulen wechseln können.

  • teilweise finanzielle Unterstützung gewährt wird.

Dieses Programm soll verhindern, dass Studierende durch Schließungen Nachteile im Studienverlauf erleiden.

4. Gesetzliche Schließungsregelungen (停辦條例 tíngbàn tiáolì)

Die Schließung einer Universität ist in Taiwan klar geregelt:

  • Frühzeitige Ankündigung (mindestens zwei Jahre vorher).

  • Vorlage eines vollständigen Schließungsplans inklusive Studierendenplatzierungen.

  • Prüfung und Auflösung finanzieller Verpflichtungen.

5. Langfristige Reduktionsstrategie

Langfristig strebt die Regierung eine Reduktion der Zahl privater Hochschulen von derzeit rund 112 auf etwa 70–80 Institutionen bis 2035 an. Dabei sollen starke Hochschulen erhalten bleiben und die Ressourcen effizienter eingesetzt werden.

Dabei bleibt die strukturelle Herausforderung bestehen, dass Taiwan seine Hochschulbildung im Vergleich zu anderen OECD-Staaten deutlich unterfinanziert:
Die Studierenden-Lehrenden-Quote ist hoch, die individuellen Betreuungsmöglichkeiten sind begrenzt.

Das Ziel bleibt eine qualitativ stärkere, international wettbewerbsfähige Hochschullandschaft.


Stabile private Hochschulen: Das Beispiel der Tamkang University

Neben der Konsolidierungswelle gibt es auch Erfolgsbeispiele. Besonders hervorzuheben ist hier meine Universität, die Tamkang University (淡江大學, Dànjiāng Dàxué) in Tamsui. Tamkang, gegründet 1950, setzt seit Jahrzehnten auf Internationalisierung, Technologieförderung und Multicampus-Strategien.


Die Einschreibungsquote liegt stabil bei etwa 75 %, die finanzielle Basis ist solide, unterstützt durch Alumni-Netzwerke und Forschungskooperationen.

Mit umfangreichen englischsprachigen Studiengängen und gezielter Auslandskommunikation gelingt es Tamkang, trotz des allgemeinen Trends eine stabile, zukunftsorientierte Rolle im taiwanischen Hochschulsystem einzunehmen.

Tamkang zeigt, dass innovative, international vernetzte Privatuniversitäten auch unter widrigen Bedingungen erfolgreich bestehen können.


Fazit

Taiwans Hochschulsystem befindet sich in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Die demographische Krise erzwingt eine massive Konsolidierung. Mit der Abschaffung der formellen Watchlist und der Hinwendung zu flexiblen Marktmechanismen versucht die Regierung, den Wandel geordnet und sozial verträglich zu gestalten. Ob diese Strategie Erfolg haben wird, hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, die Qualität der Hochschulausbildung zu sichern und Taiwan als Bildungsstandort international noch attraktiver zu machen.


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