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Strategem 12: Leicht das Schaf wegführen

Gibt die innenpolitische Zerrissenheit der USA China Gelegenheit, Taiwan zu erobern?

Wie kann das Strategem 12 im Taiwankonflikt Zur Anwendung kommen? Zum Beispiel indem der sicherheitspolitische Garant USA ausfällt.

In einem Interview mit der Fachzeitschrift Internationale Politik (März/April 2023, S. 94-99) mit dem renommierten China- und Geopolitik-Forscher Sebastian Heilmann antwortet Prof. Heilmann auf die Frage [W]elche Rolle spielt die mittelfristig denkbare außenpolitische Lähmung der USA? Preist Xi das in sein Handeln ein“? folgendermaßen (verkürzte Wiedergabe):

„{…} Die innenpolitische Zerrissenheit der USA ist eine zentrale Variable in der geopolitischen Rivalität. Denn Chinas politische Führung wartet explizit auf „historische Gelegenheiten“, etwa zur Wiedervereinigung mit Taiwan, die sich eröffnen könnten, wenn die USA durch eine Verfassungskrise blockiert würden und das westliche Bündnissystem ins Straucheln geriete. Aus Pekinger  Sicht wird der innere Zerfall die ausschlaggebende Voraussetzung für Chinas Aufstieg zur unangreifbaren globalen Führungsmacht sein“ (IP, S. 97).

Heilmann meint, dass Xi Jinping davon ausgehe, dass Amerika auf eine Verfassungskrise zusteuere, auf eine Selbstblockade oder gar Selbstzerstörung, womöglich im Kontext der nächsten Präsidentenwahl, vielleicht auch schon vorher.

Strategem 12: Mit leichter Hand das Schaf wegführen: 順手牽羊 (Shùn shǒu qiān yáng)

Wie lässt sich die Erwartungshaltung Xis in einem Strategem ausdrücken? Die 36 Strategeme (三十六期) weisen auch Überschneidungen auf, und es kommen ein paar Strategeme in Betracht. Am besten dürfte aber Strategem 12 passen:

„Mit leichter Hand das Schaf wegführen“. 

Das Gelegenheitsstrategem wird von Harro Senger auch als Kairos-Strategem oder Serendipitätsstrategem bezeichnet (H. Senger, Die 36 Strategeme, S. 68). Es hat die ständige und allseitige psychologische Bereitschaft, Chancen zu einem Vorteilsgewinn auszuwerten, zum Kern.

Sollten die USA in eine selbstverursachte Lähmung verfallen und ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit einbüßen, auch wenn es sich nur um ein paar Tage handelt, könnte China versucht sein, die Gelegenheit für einen schnellen und ebenso massiven Militärschlag auszunutzen. Würde China weiterhin davon ausgehen, dass Taiwans militärische Abwehr ohne sofortiges Eingreifen der USA zusammenbrechen würde, dann hätte Xi das Schaf mit leichter Hand weggeführt.

Strategem 12
Strategem 12: Mit leichter Hand das Schaf wegführen

Das Dilemma der geeigneten Gegenmaßnahme und des Signalwechsels

Gehen wir einmal davon aus, dass auch die USA wissen, worauf Xi spekuliert, dann müssten die USA Xi klare und eindeutige Signale senden, dass es zu dieser Gelegenheit nicht kommen wird.

Allerdings kann dies nicht dadurch geschehen, dass die USA signalisieren, dass es zu keiner Verfassungskrise kommen kann, denn das dürfte die zerrissene politische Situation in den USA nicht glaubhaft hergeben.

Also müssen sowohl die Demokraten als auch die Republikaner und deren Flügel außenpolitisch eine bipartisanship und ein chinapolitisches Signal des „Politics stops at the water’s edge“ geben. Dadurch könnte im Falle einer Verfassungskrise und innenpolitischen Krachs die außenpolitische Reaktionsfähigkeit aufrecht erhalten werden können. Und genau dahin bewegt sich die US-Chinapolitik.

Allerdings hat dieses außenpolitische Signal Kosten. Derzeit debattieren Think Tanks und Politiker über die sogenannte Strategic Ambiguity, und ob diese nicht besser zu einer Strategic Clarity überführt werden sollte (oder nicht sogar bereits überführt wurde).

Damit ist gemeint, dass sich die USA offenhalten, ob sie im Falle eines chinesischen Angriffs intervenieren, oder die Füße still halten (Strategic Ambiguity). Derzeit werden die Stimmen in den USA lauter, die ein klares Bekenntnis zu einer Intervention im Falle eines Angriffs fordern (Strategic Clarity).

Das Dilemma ist, dass sich durch diesen Signalwechsel die Positionen weiter verhärten und die Stimmen der Falken in den USA und in China an Gewicht zunehmen. Würden die USA allerdings ein klares Bekenntnis zur Strategic Ambiguity abgeben, dürfte die Chance aus Sicht Xis größer werden, dass ein innenpolitisches Zerwürfnis in den USA tatsächlich zu einer außenpolitischen Gelegenheit käme, das Schaf mit leichter Hand wegzuführen. Xis 中國夢 (China Dream) wäre zum Greifen nah.

Strategem 12: Durchkreuzung auch aus innenpolitischen Gründen

Interessant ist jedenfalls die Beobachtung, dass die Vereinigten Staaten auch aus innenpolitischen Gründen die strategische Doppeldeutigkeit aufgeben könnten, um der Gefahr eines innenpolitischen Krachs und außenpolitischer Handlungsunfähigkeit vorzubeugen.

Auch Taiwan bereitet sich auf Eventualitäten vor. Während die Regierung die starken Bekenntnisse aus einem vielstimmigen Chor amerikanischer Akteure gutheißt, hat auch die Debatte, Taiwan müsse sich im Falle eines Angriffs auch alleine zur Wehr setzen können, stark an Fahrt aufgenommen.

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