Der Taiwan-Besuch der US-Parlamentssprecherin Nancy Pelosi Anfang August 2022 hat zu heftigen rhetorischen Reaktionen Chinas geführt. Erstmals trainierte das chinesische Militär eine Seeblockade rund um Taiwan mit zahlreichen Marineschiffen. Raketen flogen über die Insel, und noch mehr Flugzeuge drangen in die taiwanische Flugüberwachungszone ein. Ist der Zeitpunkt für einen chinesischen Angriffskrieg gegen Taiwan gekommen, auch vor dem Hintergrund der russischen Invasion der Ukraine?
Anlässlich des Nationalfeiertags Taiwans (bzw. der Republik China) am 10.10. 2022 argumentiert dieser Artikel, dass solange die chinesische Furcht vor den Folgen eines Angriffs auf Taiwan für China größer ist als die Gier, Taiwan endlich zu erobern, die Insel einigermaßen sicher ist.
China zwischen Fear and Greed: Lohnt sich ein Angriff?
Vor einigen Jahren hat CNN für den Aktienmarkt den „Fear and Greed Index“ entwickelt, um zu ermitteln, ob Aktienkurse fair bewertet werden. Dieser Index soll die beiden stärksten Emotionen am Aktienmarkt nachbilden und Anleger aufklären, ob der Zeitpunkt zum Investment gekommen ist.
Je stärker die Emotionen Furcht oder Gier nach oben ausschlagen, um so stärker verzerren diese die Preise. Wenn die Furcht besonders groß ist, ziehen sich Anleger panikartig zurück. Wenn die Gier besonders groß ist, bekommen Anleger „Fomo“ (Fear of Missing Out). Dann schmeißen sie ihren letzten Heller in den Aktienmarkt und kaufen möglicherweise überteuert ein.
In einem kleinen Gedankenexperiment wenden wir metaphorisch „Furcht and Gier“ auf Chinas Taiwanambitionen an. Wir versuchen zu ermitteln, ob seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine eher Furcht oder Gier die Sinne der chinesischen Führung bestimmen.
Warum hat China Taiwan nach dem 24. Februar 2022 nicht angegriffen?
Viele Beobachter der Weltpolitik haben mit Beginn des russischen Aufmarschs an der ukrainischen Grenze vermutet, China würde eine mögliche russische Invasion nutzen, um Taiwan in einem antiwestlichen Doppelschlag anzugreifen. Unbewusst haben sie vermutet, China würde das Strategem 5 der 36 Strategeme („Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnutzen“, 趁火打劫, Chèn huǒ dǎ jié) anwenden.
Im Original bedeutet es, auf die Schwäche eines Gegners durch Chaos, Rebellionen etc. zu warten um dann im günstigsten Moment zuzuschlagen. Als die USA and Europäer noch unter dem Schock standen, hätte China Gelegenheit gehabt. China hat dieses Strategem jedoch nicht angewendet. Und das obwohl China und Russland noch kurz vor dem russischen Einmarsch am 24. Februar „Grenzenlose Freundschaft“ vereinbarten.
Zweifellos ist China „gierig“, das vermeintliche „Jahrhundert der Demütigung“ endlich hinter zu lassen. Und dazu fehlt (fast) nur noch die „Wiedervereinigung“ mit Taiwan. Seit 2020 veranstaltet die chinesische Luftwaffe fast täglich Flugschauen durch die taiwanische Luftraumüberwachungszone. Im August 2022 hat das taiwanische Militär 444 solcher Flüge in diese Zone registriert, mehr als das doppelte der 196 Flüge vom Oktober 2021.
Zudem rüstet China in der gegenüberliegenden Provinz Fujian Militärbasen massiv auf. Präsident, Außenamtssprecher und das Militär äußern gleichlautend Angriffslust und rasseln mit den Säbeln. Warum hat China also nicht den 24. Februar 2022 genutzt, und Taiwan angegriffen?
Chinas Furcht ist größer als die Gier
Chinas allgemeine politischen Handlungen und Reaktionen auf den russischen Krieg sprechen dafür, dass Furcht die dominante Emotion ist, und nicht die Gier.
Der Corona-Lockdown Shanghais, von manchen als Stärke der politischen Führung interpretiert, ist eher ein Zeichen von Furcht. Dass nämlich das Virus ungebremst China mit voller Wucht trifft, angesichts schwacher chinesischer Impfstoffe. Im internationalen Kontext bedeutet der Lockdown auch eine indirekte Sanktion gegen den Westen, und insbesondere Deutschland und die EU. Deutschland, ohnehin schon von Lieferkettenproblemen gebeutelt, zahlt international die Hauptzeche auch für die Russlandsanktionen. Der Lockdown übt indirekt Druck aus, unbedingt die eurasischen Zugverbindungen der Seidenstraße weiterhin zu nutzen.
Die Xinjiang „Lockdowns“ von Zehntausenden von Muslimen in Arbeitscamps zeugen eher von Furcht vor Rebellion als von Mut der Führung. Etwa 50 Prozent des chinesischen Territoriums ist von ethnischen Minderheiten mehrheitsbewohnt. In mancher Hinsicht ist China ein Kolonialstaat – denn auch ein Großteil der Rohstoffe kommt aus innerchinesischen Provinzen. Zentralisierung der Macht und territoriale Ausmaße in Verbindung mit Chinas internationalem Machtzuwachs machen das Land heute so mächtig, wie es in seiner Geschichte noch nie war. Erstmals erreicht China Weltmachtstatus. Im chinesischen Denken in Zyklen jedoch wird ein möglicher Abschwung immer mitgedacht. Nach oben kommen ist leichter, als oben zu bleiben. Ein Abschwung ist in letzter Zeit nicht unwahrscheinlicher geworden.
Es geht die Furcht um, dass weniger der Wettbewerb mit den USA, von deren Niedergang China seit Jahren überzeugt ist, sondern Furcht vor der eigenen Schwäche den Aufstieg zur unumschränkten Weltmacht torpediert. Kontrollverlust ist derzeit die größte Furcht in China und auch im persönlichen Machtstreben des Präsidenten.
Wirtschaftswachstum nicht noch weiter schwächen
Maues und nicht nachhaltiges Wirtschaftswachstum (Umweltverbrauch, Wohnungsbau im Nirgendwo, Überproduktion von Stahl, etc.), Überschuldung der öffentlichen Haushalte und faule Kredite, sowie eine hohe Jungendarbeitslosigkeit sind Probleme des Riesenreiches, die die Führung angehen muss. Die demographische Entwicklung Chinas verlangsamt das Wachstum, während die Kosten der Versorgung steigen. Zudem würde eine militärische Konfrontation nicht nur Chinas Wirtschaft an den Rand des Ruins treiben. Auch das Vertrauenskapital, dass China mühsam in Südostasien aufgebaut hat, würde mit einem Schlag zerstört werden.
China schottet sich immer mehr ab. Deutsche Expats sind frustriert, immer mehr Manager verlassen das Land. Lockdown, Überwachungswahn, Propaganda, Ausländerfeindlichkeit verdrießen den China-Aufenthalt. Auch der akademische Austausch leidet. Derzeit sind wohl nur noch etwa 50 deutsche Austauschstudenten in China. Ist Abschottung ein Ausweis von Mut oder von Furcht? Bewusst nimmt China Wirtschaftsschwäche in Kauf, im die Kontrolle zu erhöhen/ zu erhalten.
Bellende Hunde beißen nicht
Die Furcht in China ist derzeit größer als die Gier. Um keine Furcht zu zeigen, muss China rhetorisch und symbolisch umso stärker aufrüsten. In spieltheoretischer Hinsicht teilen Taiwan, China und die USA eine gemeinsame Aversion („common aversion“) gegen eine Veränderung des Status-Quo. Noch größer als der Wunsch nach einer „Wiedervereinigung“ ist derzeit die Furcht vor einem Totalverlust Taiwans. Akteure, die ein Ereignis befürchten, mögen in ihrer Reaktion oft überreagieren. Während der Westen eine Verschiebung des Status-Quo in Richtung China feststellt, mag China befürchten, dass die internationale Unterstützung für Taiwan immer größer wird und Taipei zu einem unüberlegten Schritt veranlasst. So reiste vom 1. bis 7. Oktober 2022 eine Delegation des Freundeskreises Berlin-Taipei unter Leitung des Vorsitzenden, Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU), nach Taipei.
Derzeit sind die Akteure also in einem instabilen Gleichgewicht, denn „gemeinsam geteilte Abneigungen“ führen selten zu einer positiven Zusammenarbeit. Man teilt lediglich passiv den Wunsch, den jeweiligen Worst Case zu vermeiden. (Beispiel: Nuklearwaffen – keiner möchte sie einsetzen, aber man kommt nur zu sub-optimalen Verhandlungsergebnissen, diese zu verringern, geschweige denn abzuschaffen.).
So hat dann auch die taiwanische Präsidentin Tsai Ying-wen im eigentlichen Sinne Pekings argumentiert, als sie am Nationalfeiertag am 10.10.2022 in ihrer Rede sagte: „Eine bewaffnete Konfrontation ist absolut keine Option für beide Seiten“.
Das heißt jedoch keinesfalls, dass dies so bleibt, da es sich um um ein instabiles Gleichgewicht handelt, dass sich ändern kann, mitunter schlagartig. Falls sich in China Fomo breit macht, könnte das Gleichgewicht schnell kippen.