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Taiwanstraßen-Flugrouten und Taiwan-Strategeme: Warum Taiwans Ausschluss aus der ICAO ein globales Risiko ist

„Die neue Flugroute wird beiden Seiten der Taiwanstraße zugutekommen.“ — Chen Binhua, Sprecher des Taiwan Affairs Office des chinesischen Staatsrats (Xinhua, 7. Juli 2025)

Ein dritter Bruch der 2015er-Vereinbarung durch China zeigt: Wer Taiwan von globaler Koordination ausschließt, riskiert mehr als diplomatische Spannungen — nämlich die Sicherheit des gesamten ostasiatischen Luftraums.

Am 6. Juli 2025 hat China einseitig die Ostflugverbindung W121 entlang der hochsensiblen M503-Route aktiviert. Diese Route verläuft nur 7,8 Kilometer von der Medianlinie der Taiwanstraße entfernt — jener unsichtbaren Linie, die jahrzehntelang als informelle sicherheitspolitische Trennung zwischen Taiwan und China fungierte. Die Öffnung erfolgte trotz einer bilateralen Vereinbarung aus dem Jahr 2015, wonach Flugveränderungen nur im gegenseitigen Einvernehmen vorgenommen werden sollten. Zum dritten Mal in Folge hat China diese Vereinbarung ignoriert. Die taiwanische Mainland Affairs Council (MAC) sprach von einem „einseitigen Bruch des Status quo“, der die Region destabilisiere (Taipei Times, 2025b).

Tiawanstraßen-Flugroute
Offizielle Karte der taiwanischen Zivilluftfahrtbehörde (CAA): Chinas Aktivierung der M503-Route und ihrer drei Ostverbindungen seit 2015. Quelle: Civil Aviation Administration (Taiwan) / CNA

Die chinesische Zivilluftfahrtbehörde (CAAC) rechtfertigte den Schritt mit der „Optimierung des Luftverkehrs“ und einer angeblich verbesserten Flugsicherheit. Doch Taiwan widerspricht. Die Anzahl internationaler Flüge auf dem chinesischen Festland hat laut MAC noch nicht das Niveau vor der Pandemie erreicht. Der Schritt diene daher nicht der Entlastung, sondern sei Teil einer politischen Strategie: China wolle mit scheinbar technischen Mitteln geopolitische Tatsachen schaffen — unter Umgehung der International Civil Aviation Organization (ICAO), aus der Taiwan ausgeschlossen ist.

Der Fall M503: Technische Infrastruktur als politisches Druckmittel

Die Flugroute M503 wurde 2015 etabliert und verlief ursprünglich in südlicher Richtung, nachdem sich beide Seiten auf eine westliche Verschiebung um sechs Seemeilen geeinigt hatten. Doch bereits 2018 öffnete China die Route für Nordflüge, 2023 folgten Ostflüge auf W122 und W123, und 2025 schließlich auf W121. Alle drei Querverbindungen führen von China direkt in Richtung taiwanischem Luftraum. Laut Taiwans Zivilluftfahrtbehörde (CAA) erhöht dies die Komplexität in der Flugkontrolle dramatisch und verschärft die Risiken für Kinmen, Matsu und die westliche ADIZ.

Historische Perspektive: Der Bruch mit dem Konsensmodell

Der Analyst J. Michael Cole bezeichnete bereits 2015 die Bekanntgabe der Flugrouten M503 und W121–W123 als Signal für das Ende einer Phase, in der China und Taiwan wenigstens technisch auf Augenhöhe verhandelten (Cole, 2015). Trotz Track-1.5-Formaten, halb-offizieller Kanäle und etablierter Kommunikationswege wurden Taiwans Sicherheitsbedenken ignoriert. Die ICAO selbst verweigerte taiwanischen Journalisten damals den Zugang zur Vollversammlung unter Verweis auf die Ein-China-Politik — ein früher Hinweis darauf, dass technokratische Foren zunehmend politisiert wurden.

Warum Luftsicherheit keine nationale Domäne ist

Taiwan kann sich in vielen Politikfeldern selbst helfen: Als 1998 mehrere ostasiatische Länder unter dem Druck der Asienkrise zusammenbrachen und nur durch IWF-Kredite und aufoktroyierte Reformprogramme stabilisiert werden konnten, gelang es Taiwan, sich ohne externe Hilfe finanziell zu behaupten. Ebenso baute es 2003 während des SARS-Ausbruchs, wie auch bei COVID-19 — beides Viren, die ihren Ursprung in China hatten — eigene Epidemiekontrollmechanismen auf, nachdem es von der WHO ignoriert wurde.

Man kann sogar argumentieren, dass Taiwans Ausschluss aus WHO und IWF in der Rückschau institutionelle Vorteile erzeugt hat: nationale Resilienz, robuste Eigenkapazitäten und eine Politik der Selbstbindung, die im Zeitalter globaler Brandmauern fast als progressiv gelten kann. Taiwan verpflichtet sich zudem freiwillig zu Klimazielen, obwohl es nicht Teil des UNFCCC ist.

Nichtkoordination im Koordinationsspiel: Das Taiwanstraßen-Dilemma

Aber bei Flugrouten gibt es keine Möglichkeit zur Eigenständigkeit: Taiwan kann keine parallele Luftsicherheitsstruktur aufbauen, keine eigene Koordinierungsstelle schaffen und keinen Zugang zu globalen Sicherheitsdaten erzwingen. Es ist auf internationale Koordination angewiesen — und bleibt systematisch davon ausgeschlossen. Genau hier endet Taiwans Selbsthilfefähigkeit — und beginnt die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft. Spieltheoretisch handelt es sich um ein klassisches Koordinationsspiel, bei dem die Nichtkooperation eines Akteurs katastrophale Folgen haben kann (Stein, 1982). Taiwan bleibt in einer strukturellen Zwangslage: Ohne Zugang zu ICAO-Mechanismen kann es nur reaktiv handeln. Sollte es aufgrund mangelnder Koordination zu einem Flugunfall kommen, könnte China dies sogar als Vorwand nutzen, um Taiwan weiter unter Druck zu setzen — oder militärisch zu eskalieren.

Strategische Flugrouten sind systemrelevant

Flugrouten sind nicht nur technische Linien. Sie sind auch potenzielle Eskalationsräume: Ihre Nähe zur ADIZ bedeutet verkürzte Reaktionszeiten für militärische Abfangmanöver. Ihre Verschiebung sendet politische Signale. Ihre einseitige Aktivierung testet internationale Reaktionen. Wenn ein Staat systematisch zivile Infrastrukturen politisiert, betrifft das nicht nur bilaterale Beziehungen, sondern die Glaubwürdigkeit der multilateralen Ordnung.

Gerade die Europäische Union, die sich regelmäßig für Taiwans technische Einbindung ausspricht, sollte diese Entwicklungen nicht als regionales Detail abtun. Die Entwicklungen um die M503-Route werfen grundsätzliche Fragen auf: Werden technische Standards künftig noch multilateral koordiniert – oder dominieren geopolitische Interessen die Regelsetzung?

Literatur:

Stein, A.A. (1982). Coordination and Collaboration: Regimes in an Anarchic World. International Organization, 36(2), pp. 299–324. Available at: https://www.jstor.org/stable/2706524

Cole, J.M. (2015). China’s New Flight Routes Rile Taipei. The Diplomat, 15 January. Available at: https://thediplomat.com/2015/01/chinas-new-flight-routes-rile-taipei/

MOFA (2023). Taiwan’s Appeal to Join ICAO. Taipei: Ministry of Foreign Affairs.

Reuters (2025). China opens third extension to sensitive Taiwan Strait flight path. Reuters, 6 July.

Taipei Times (2025a). Mainland Affairs Council slams China over W121 route. Taipei Times, 6 July.

Taipei Times (2025b). MAC slams Beijing’s flight path change. Taipei Times, 7 July.

Xinhua (2025). New flight route benefits both sides of Taiwan Strait, says mainland spokesperson. Xinhua, 7 July.

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