Der „Nationalist“, der „Pragmatiker“, und der „Idealist“
Am 13. Januar 2024 finden die Präsidentschaftswahlen in Taiwan statt, die zu einem Dreikampf werden. Die Taiwaner wählen dabei auch die zukünftige China-Ausrichtung, personifiziert in den Kandidaten. Die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) hat sich schon länger entschieden, Vizepräsident Lai Ching-te (賴清德) ins Rennen zu schicken. Am 17. Mai hat die Kuomintang (KMT) nachgezogen und den aktuellen Bürgermeister von New Taipei City, Hou You-Yi (侯友宜), nominiert. Der ehemalige Bürgermeister von Taipeh, Ko Wen-je (柯文哲), wurde von der von ihm gegründeten Taiwan People’s Party (TPP) ebenfalls am 17. Mai nominiert. Alle drei Kandidaten haben eine interessante Biographie, und im Moment scheint nur eines sicher: Der nächste Präsident, der die derzeitige Präsidentin Tsai Ying-wen (蔡英文) von der DPP ablösen wird, ist ein Mann.
Nachdem das Trio nun komplett ist, haben am Wochenende alle drei Kandidaten (Ko in Danshui im Norden Taipehs im strömenden Regen; Lai in Chiayi im mittleren Südwesten Taiwans; Hou in der KMT-Parteizentrale in Taipeh im Rahmen einer Pressekonferenz) ihre „Wie halte ich es mit China“- Credos vorgestellt. Dieser Beitrag typologisiert die Kandidaten: Wer ist radikal für die Unabhängigkeit, wer für den pragmatischen Status Quo, wer für die reaktionäre Vereinigung mit dem Festland?
Wenn das nur so einfach wäre. Der Bewegungsspielraum ist für Taiwan sehr eng gesteckt und wird von China und dem geopolitischen Konflikt zwischen den USA und China zunehmend eingeengt. Welche Möglichkeiten sehen die Kandidaten, Taiwans Situation zu verbessern, und lassen sich die Haltungen typologisch einordnen? Zur Orientierung nehmen wir drei Standardtheorien der Internationalen Beziehungen.
Theorien und Typologien
Im Realismus ist die Kategorie „Macht“ zentral. Die Akteure streben nach mehr Macht um in einer anarchischen Welt sicherer zu sein. Großmächte streben nach Hegemonie, Mittelmächte formen Allianzen und kleinere Mächte hängen sich an größere durch bilaterale Abkommen oder innerhalb von Allianzen (bandwagoning). Der Realismus (insbesondere der Neorealismus) samt seinen zahlreichen Ausprägungen ist die Standardtheorie. Die Welt habe sich seit dem Peloponnesischen Krieg und dem Geschichtsschreiber Thucydides im Prinzip nicht verändert. Wichtig ist es, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten, und pragmatische Lösungen zu finden, um das Gleichgewicht der Mächte zu erhalten, das den Frieden garantiert. Machiavelli und Clausewitz zählen zu den historischen Realisten.
Im Liberalismus glauben Akteure an die Macht der Freiheit und die friedensstiftende Demokratie. Die wichtigste Annahme ist die Demokratische Friedenstheorie: Demokratien führen keinen Krieg untereinander. Zwar führen Demokratien sehr wohl Kriege gegen autoritäre Regime, wie man am Beispiel der USA hinreichend belegen kann, aber insgesamt gehört es zum westlichen Konsens, dass Demokratien ihre Konflikte friedlich lösen und auch untereinander friedlich sind. Immanuel Kant („Zum Ewigen Frieden“) und seine Friedenstheorie schließen Handel und Kapitalismus mit ein. Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sowie zunehmende gegenseitige Abhängigkeiten führen zum Frieden.
Konstruktivismus ist keine eigenständige Theorie der internationalen Beziehungen, sondern eher eine modische Ausprägung des Liberalismus. Grundannahmen sind, dass die Welt, wie wir sie sehen, konstruiert sei und Ideen alles zum Besseren wenden können, wenn sie gut kommuniziert werden. So behaupten Konstruktivisten dass die UdSSR vor allem durch die Macht und Attraktivität der Ideen Menschenrechte und Demokratie (und nicht zuletzt McDonald’s) unterging. Die Welt sei auch nicht so starr, wie die Realisten glauben machen, sondern wir können sie à la Habermas durch Kommunikation verändern. Das klingt für manche nach Orwell’s Roman „1984“, aber die Konstruktivsten beschränken sich auf positive Utopien im Sinne der Aufklärung und was sie heute dafür halten. Kategorien wie Macht und Interesse müssen durch andere Konzepte ersetzt werden, zum Beispiel Identität („Eine Welt“). Frieden ist, wenn wir eine gemeinsame Identität („Identity matters“) teilen und Empathie füreinander empfinden.
Der „Nationalist“ Lai Ching-te (賴清德) (DPP)
Den klarsten Kurs fährt Vizepräsident Lai. Der frühere Bürgermeister der (fast) Zwei-Millionenstadt Tainan und derzeitige Vizepräsident ist für seine starke Neigung zur Unabhängigkeit Taiwans bekannt und gilt als „extremer“ als Amtsinhaberin Tsai. Er hat sich am 20. Mai deutlich positioniert:
„Den 1992 Konsens oder das Ein-China-Prinzip zu akzeptieren bedeutet Taiwans Souveränität aufzugeben und sich von Chinas Diktatur vereinnahmen zu lassen. Die Wahlen 2024 sind eine Wahl zwischen Demokratie und Freiheit, oder Autokratie“ (Taiwan News, 21 Mai 2021).
Vor wenigen Wochen hat Lai ausgeführt, dass Taiwan und China als Brüder erfolgreich Seite an Seite in der Taiwanstraße koexistieren könnten. Taiwan und China könnten eine „Föderation von Brüdern“ sein. Dabei zitierte Lai den verstorbenen Aktivisten Koo Kwang-ming (辜寬敏), der ein Berater der bisherigen zwei DPP-Präsidenten war und die „Stiftung Neue Verfassung“ mitbegründete (Focus Taiwan, 23 April 2023).
Lai ist ein Unterstützer der Unabhängigkeit und hat sich früher verschiedentlich als „Unabhängigkeitsarbeiter Taiwans“ oder „politischer Arbeiter der die Taiwanische Unabhängigkeit unterstützt“, bezeichnet.
Taiwan sieht er als souveräne, unabhängige Nation an, welche die Unabhängigkeit nicht erst ausrufen müsse.
Er und seine DDP werden of als Nationalisten gescholten. Nationalisten sind sie aber nur im vergleichbaren Sinne der Nationalisten der Frankfurter Paulskirchenversammlung von 1848. Die damaligen Nationalisten waren gegen die autoritären Monarchisten, befreiungsorientiert und bürgerlich. Nationalisten sind sie auch im Sinne von Woodrow Wilson’s Idee von 1918, dass jede Nation das Recht zur Selbstbestimmung hat. Der Nationalismus, den die DPP vertritt, ist eine freiheitliche liberale Version und das Gegenteil des chinesischen Nationalismus. DPP-Kandidat Lai ist eher ein taiwanischer „Nationalliberaler“, innenpolitisch eher ein Sozialdemokrat.
Der Pragmatiker Hou You-Yi (侯友宜) (KMT)
Am 20. Mai, drei Tage nach seiner Nominierung, sagte KMT-Kandidat Hou You-Yi (侯友宜), dass die meisten Leute Taiwans ein „zwangsweise oktroiertes Vereinigungsmodell nicht akzeptieren würden“. Hou meint aber auch, dass einer Unabhängigkeit Taiwans die Rechtsgrundlage fehle.
Am 11. Mai, wenige Tage vor seiner Nominierung, sprach er sich gegen Pekings Formelklassiker „Ein Land, Zwei Systeme“ aus, aber auch gegen die Unabhängigkeit Taiwans. Chinas Bedrohung der nationalen Souveränität der Republik China sei inakzeptabel. Taiwan muss diese Herausforderung ernst nehmen und ein „hohes Maß an Gefechtsbereitschaft“ erreichen (Taipei Times, 11 Mai 2023).
Den Spagat zwischen Taiwan und der Republik China bekommt Hou folgendermaßen hin: „Die Republik China ist unser Land, und Taiwan ist unser Zuhause. Wir müssen gut auf unser Zuhause und unser Land achtgeben.“
Pragmatisch führt der KMT-Kandidat in einem Onlinevent am Abend des 21. Mai aus, dass es in der Verantwortung jeder Regierung der Republik China (Taiwans offizieller Name) liege, die Selbstverteidigungsfähigkeit zu erhöhen um sicherzustellen, dass ein Krieg zu teuer für den Feind wäre (Focus Taiwan, 21 Mai 2023).
Das klingt dann sehr „realistisch“ und gleichgewichtsorientiert. Der KMT-Kandidat Hou ist also unser Realist im Typologiespektrum.
Ko-Wen Je (柯文哲): Der Idealist (Konstruktivist) (TPP)
Nach „Nationalist“ Lai und „Realist“ Hou müsste im Kandidatenkarussel Ko den Konstruktivsten geben. Ko ist seit seiner Zeit als Bürgermeister von Taipeh bekannt und beliebt für seine originellen Ideen und rhetorischen Figuren.
Im September 2022 sagte Ko, „Taiwaner sollten Dinge tun, die es den Menschen in China ermöglichen, uns zu mögen. Das ist das wichtigste Ziel. Wenn sie uns nicht mögen, haben wir ein Problem. Beide Seiten der Taiwanstraße sollten Gespräche führen, die dem Glück der großen Familie dienen“ (Taipei Times, 15 September 2022).
Nach seiner Nominierung versprach Ko in einer Rede einen pragmatischen Weg in den Beziehungen mit Peking, und die Kommunikationskanäle mit dem kommunistischen Land wieder zu öffnen (kleine Anmerkung: Die aktuelle Präsidentin hat immer wieder ihre Bereitschaft zu Gesprächen mit Peking betont, so etwa in ihrer zweiten Inaugurationsrede in 2020) (Nikkei Asia, 20 Mai 2020).
Er strebe eine Koalitionsregierung an um eine Polarisierung zu vermeiden, und würde Oppositionsführer zu einer nationalen Konferenz einladen, um einen Konsens in wichtigen Fragen zu erreichen (Taiwan News, 20. Mai 2023).
Ko betont eine gemeinsame Identität mit China ohne die taiwanische auszuschließen. Auch sein starker Fokus auf Kommunikation lässt auf einen Konstruktivsten schließen.
Schon lange hat Ko den Ruf, einen goldenen Mittelweg zwischen der DDP und der KMT zu beschreiten.
Schlussbetrachtung
Taiwan hat nur einen sehr geringen Einfluss auf China und die USA und wie diese ihre Beziehungen ge- oder verunstalten. Um sich als Akteur dennoch zu positionieren und überhaupt ein Gewicht zu bekommen, muss Taiwan den innenpolitischen Konflikt in der wichtigsten existentiellen außenpolitischen Frage endlich beilegen und einen Minimalkonsens finden. Vielleicht trägt ein Dreier-Präsidentschaftswahlkampf ja dazu bei, dass weniger polarisiert wird. Typologisch sind die Unterschiede zwischen den Kandidaten nicht so groß.